Hildigund Neubert: Rede zum 9. November 2019 bei der Zentralen Gedenkveranstaltung an der Berliner Mauer

09.11.2019

Meine Damen und Herren,

 

Die Mauer ist weg, eingestürzt in einem kurzen Augenblick, in einem Freudentaumel versank das Monster.

Seit diesem 9. November 1989 zählen die Jahre „post muros“.

30 sind es schon.

30 bewegte Jahre in der deutschen Politik, in der europäischen und in der Weltpolitik.

Neue Probleme und Konflikte haben sich in diesen 30 Jahren angehäuft und wie dunkle Wolken zusammengeschoben.

Auch neue Mauern zwischen Menschen wurden errichtet.

Fast schon schwindet das Außergewöhnliche des Mauerfalls 1989, reduziert sich auf einen Zufall unter anderen, auf einen Zwischenfall in der Weltgeschichte.

Jetzt steht die Mauer im Museum, hier. Und Mauersegmente sind in alle Welt verkauft und stehen da als Museumsstücke.

 

Am 5. Oktober 1989, also ganz am Anfang der friedlichen Revolution, brachten protestierende DDR-Bürger in der Nähe von Weimar, in Stadtilm, an einer Brücke ein großes Schild an.

Auf dem stand:

„Dieser Staat, Ihr werdet sehen, wird noch im Museum stehen“.

Der Vers war so viel Selbstermutigung, wie er auch als Drohung gedacht war. Die Volkspolizei und die Staatssicherheit suchten vergeblich die Aktivisten.

 

Doch wir wissen, alles was im Museum steht, hatte einmal einen Platz im Leben – auch diese Mauer – einen Platz im Leben - ein Ort des Todes.

 

So sehr diese Mauer vor über 30 Jahren die Menschen bedrohte, störte und provozierte, so sehr hatten sich die Welt und viele viele Menschen daran gewöhnt.

Für manche, vor allem natürlich für die DDR-Kommunisten, war die Mauer, gebaut aus Beton und Lügen, ein Bollwerk des Friedens.

Selbst im Westen gab es genug Leute, auch in der Politik, die der Mauer einen Sinn abgewinnen wollten.

Mindestens aber hatte man sich an die Mauer gewöhnt, sie wurde hingenommen wie ein Frost im Winter, wie ein Stein im Steinbruch, wie ein Schlagloch in der Straße.

Niemand sprach die Wahrheit aus.

 

„Die schamhaftige Zeit

Sie sei sonst, wie sie sei, die Zeit,
So liebt sie doch Verschämlichkeit.
Sie kann die Wahrheit nackt nicht leiden;
Drum ist sie emsig sie zu kleiden.“
(Friedrich von Logau 1640)

 

Bewegung, Veränderung waren nicht in Sicht und auch nicht denkbar. Die in der DDR Eingemauerten warteten und warteten.

Sie warteten nicht auf den Mauerfall. Sie warteten darauf alt zu werden.

Mit 65 Jahren und mit verbrauchter Arbeitskraft durften sie in den Westen fahren. Bleierne Zeit.

 

„Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruht von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.“
(Friedrich Hölderlin)

 

Und dann geschah es.

Plötzlich eilten die Bürger zum Monster.

Das Blei schmolz und der Ewigkeitsanspruch des SED-Regimes zerfiel. Die abgegrenzte DDR öffnete sich als Handlungsraum

und die stillgelegte Zeit nahm Fahrt auf

und die Lebenszeit wurde wieder lebendig, wollte gestaltet sein.

Das alles vor 30 Jahren.

Sie ist weg

 

die mauer

 

als wir sie schleiften, ahnten wir nicht

wie hoch sie ist

in uns

 

wir hatten uns gewöhnt

an ihren horizont

 

und an die windstille.

 

in ihrem schatten warfen alle

keinen schatten.

 

nun stehen wir entblößt

jeder entschuldigung  (Reiner Kunze)

 

 

30 Jahre Freiheit.

Aber auch

30 Jahre neue Verantwortung eines jeden einzelnen von uns Menschen – für sich und für die Nächsten.

30 Jahre neue Verantwortung der Gesellschaft für wahrhaftiges Reden und respektvollen Umgang miteinander.

30 Jahre neue Verantwortung der Politik in einer multipolar gewordenen Welt, in der Diktaturen und Unrecht immer noch unverschämt mächtig sind.

 

Wir alle, auch die Politik sollten öfter, täglich auf die Museumsrelikte der Mauer schauen. Dann wissen wir – über alle Vernunft hinaus:

Es gibt das Wunder von Bewegung in bleiernen Zeiten.

 

https://www.phoenix.de/30-jahre-mauerfall-a-1370950.html?ref=aktuelles