Zum Gedenken: Dr. Ehrhart Neubert (1940 - 2024)

18.11.2024

„Dann hätte ich mir schon mal eher einen Schlips umgebunden…“
 

Der Bürgerrechtler und langjährige Vorsitzende des Bürgerbüro e.V., Pfarrer Dr. Ehrhart Neubert, ist am 17. November im Alter von 84 Jahren gestorben. Er schrieb das Standardwerk "Die Geschichte der Opposition in der DDR". 

 

Dr. Ehrhart Neubert 02.08.1940 – 17.11.2024

Seine letzte Reise hier auf Erden führte Ehrhart Neubert am 9. November zum 35. Jahrestag des Mauerfalls nach Berlin. Als einer von 20 Bläsern des von seiner Frau Hildigund Neubert geleiteten Limlingeroder Posaunenchores blies er beim „Posaunenruf zum Mauerfall“ an der Hinterlandmauer der Gedenkstätte Bernauer Straße mit. Bis zum Schluss war er als Pfarrer im Unruhestand in den umliegenden Thüringer Dörfern als Seelsorger und Prediger unterwegs. „Danket dem Herrn“, sein Gruß zum Abschied, vor Hunderten Zuhörern bei der Gedenkveranstaltung.

Vor knapp zehn Jahren wurde in der Thüringer Landesvertretung in Berlin anlässlich von Ehrhart Neuberts 75. Geburtstag ein wissenschaftliches Symposium ausgerichtet. Historiker, Freunde und Weggefährten diskutierten und erinnerten sich. Ehrhart Neubert, der in der Studienabteilung des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR (BEK) für die soziologischen Fragen zuständig war, hatte dort 1986 eine „nur zum innerkirchlichen Dienstgebrauch“ in kirchlichen und oppositionellen Kreisen – und im MfS – viel beachtete Studie mit dem Titel „Reproduktion von Religion in der DDR-Gesellschaft: Ein Beitrag zum Problem der sozialisierenden Gruppen und ihrer Zuordnung zu den Kirchen“ verfasst. Historiker und Weggefährten – darunter Ilko-Sascha Kowalczuk, Ulrike Poppe, Lutz Rathenow – diskutierten über die Selbstermächtigung des Volkes der DDR mit dem Ruf „Wir sind das Volk“. Die emanzipatorische Kraft von Religion in der Diktatur war Neuberts Thema, das sich nicht an einer staatlichen Uni bearbeiten ließ. Christine Lieberknecht, die ehemalige Pastorin und Thüringer Ministerpräsidentin, eröffnete die Veranstaltung mit sehr persönlichen Erinnerungen und dem Neubert-Zitat: „Pfarrerskinder haben einen hohen emanzipatorischen Willen“. 

Bedrückungen der Menschen im DDR-Grenzgebiet prägten ihn

Ehrhart Neuberts Vater war Superintendent, der Sohn wurde nach dem Studium in Jena 1964 Thüringer Vikar und Dorfpfarrer. Die Bedrückungen der Menschen durch die Kollektivierung und die Zwangsaussiedlungen im Grenzgebiet („Aktion Ungeziefer“) waren prägend. Später wurde Neubert Studentenpfarrer in Weimar und 1984 kam die schon erwähnte Berufung zum Referenten für Gemeindesoziologie beim BEK.

Ein viel diskutierter und auch umstrittener Begriff wurde der Titel seiner 1990 noch sozusagen im Samisdat („edition kontext“) erschienenen Schrift: „Eine protestantische Revolution“. Ehrhart Neubert schrieb nie Herrschaftsgeschichte, die emanzipatorischen Gruppen und die unangepassten Einzelnen lagen ihm am Herzen und die Opfer der SED-Diktatur. Er war 1989 Mitbegründer des „Demokratischen Aufbruchs“, ab 1997 Fachbereichsleiter in der Abteilung Bildung und Forschung in der „Gauckbehörde“. 

Ehrhart Neubert gründete das Bürgerbüro zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur mit

Im selben Jahr gründete er u.a. mit Bärbel Bohley, Wolf Biermann, Jürgen Fuchs, Freya Klier, Siegfried Reiprich, Günter Nooke, Ignatz Bubis, Katja Havemann, Wolfgang Templin, Konrad Weiß, Ralf Giordano u.a. das Bürgerbüro e.V. – Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur – und war bis 2015 als Nachfolger Bärbel Bohleys dessen Vorsitzender. „Vergebung oder Weißwäscherei“ war der Titel eines von Neubert 1993 erschienenen Buches zur (unzureichenden) Aufarbeitung der Stasiverbindungen in den Kirchen. Und auch sein 1997 erschienenes Standardwerk „Die Geschichte der Opposition in der DDR“, für das er 1997 an der FU Berlin von Gesine Schwan promoviert wurde, erzählt diese Geschichte von der Basis der oppositionellen Gruppen aus. 
Bei allem Schreiben und allem politischen Wirken ist Ehrhart Neubert immer auch seine Identität als lutherischer Theologe anzumerken. So überlegte er auf „seinem“ Symposium auch, ob die tiefere Sinnebene des Revolutionsrufes von 1989 „Wir sind das Volk“ nicht die aus 1. Kor 12 sei: die auch in der Diktatur nicht ganz verschüttete Erinnerung, dass eine funktionierende Staatsordnung „ein Leib und viele Glieder“ sein müsse.

"Die Kraftfahrer sitzen in dem kleinen Raum da hinten"

In der Zeit, als im späten Herbst des Jahres 1989 sich ein Teil des Demokratischen Aufbruchs der CDU zuwandte und Ehrhart Neubert Angela Merkel als Pressesprecherin des Demokratischen Aufbruchs anstellte und die ersten schick angezogenen Berater der West-CDU in den Osten geschickt wurden: Da begrüßte man bei einem feierlichen Empfang in einem Berliner Hotel den vornehm aussehenden Referenten an Neuberts Seite mit höchster Ehrerbietung und sagte zu Neubert mit dem stets verwegen wehenden Haar: „Die Kraftfahrer sitzen in dem kleinen Raum da hinten.“ Neubert lachte, als er dies damals erzählte: „Hätte ich geahnt, wie leicht man Leute beeindruckt, dann hätte ich mir schon mal eher einen Schlips umgebunden.“

Andreas Bertram, Pfarrer in der Kirchengemeinde Niederschönhausen-Nordend in Berlin, stellv. Vors. des Bürgerbüro - Verein zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur, war Vikar im Spezialvikariat bei Ehrhart Neubert im Bürgerbüro e.V.