9. November 2025 - Posaunenruf zum 36. Jahrestag des Mauerfalls

С.Э.Р. – Свобода это рай - Die Freiheit ist ein Paradies!

Chemi Lhamo, tibetisch-kanadische Menschenrechtsaktivistin, und Hildigund Neubert, Vorsitzende des Bürgerbüro e.V., hielten Mut und Freiheit hoch. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer, und Jugendliche aus Berlin und Frankreich erinnerten an die Friedliche Revolution.

 

Chemi Lhamo. (c) Priska Bertram

Mit der zentralen Gedenkveranstaltung in der Bernauer Straße hat Berlin an die Friedliche Revolution im Herbst 1989 erinnert. Unter den 200 Gästen waren Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner, die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Elisabeth Kaiser, Jugendliche aus Berlin und Straßburg und internationale Gäste. Die tibetisch-kanadische Menschenrechtsaktivistin Chemi Lhamo, Dissidentin des World Liberty Congress, hob in ihrer Rede an der Hinterlandmauer die Bedeutung von Mut, Solidarität und weltweitem Einsatz für Freiheit hervor. Am Ende schmückten die Gäste die graue Mauer mit 200 Rosen, was ein sehr hoffnungsvolles Bild ergab. 

Rede von Hildigund Neubert:

С.Э.Р. – Свобода это рай - Die Freiheit ist ein Paradies. 

Wir feiern heute einen Freiheitstag. 

Den Tag, an dem die Mauer des Großgefängnisses DDR fiel. Die „tragende Mauer“ des Systems der zwei feindlichen Blöcke stürzte, oder vielmehr: friedlich zerbröselte sie vor dem Freiheitswillen der Bürger.

Die Freiheitssehnsucht war in der DDR-Zeit immer groß gewesen. Deswegen war die Flucht aus der DDR ein nicht lösbares Problem für die Machthaber. Und die Freiheitssehnsucht derer, die dablieben, malte die Freiheit in den schönsten Farben: reisen, wohin man will, reden, was man möchte, die wirklich guten Sachen machen, rauschende Feste feiern, Kunst ohne Zensur und mit allen Mitteln. Die Freiheit – das ersehnte Paradies aller, die Gefangenschaft und Unterdrückung erleben. Aus dieser Vision wächst eine große Kraft, die alle Freiheitsbewegungen trägt und in jeder Diktatur Unruhe stiftet.

Swoboda eto rai   --- Freiheit ist das Paradies. Oder auch Freiheit ist ein Paradies.

Swoboda eto rai      S. E. R.  Viele Gefangene in Russland lassen sich diese drei Buchstaben als Tattoo stechen.

1989 drehte der russische Autor und Regisseur Sergej Bodrow einen Film mit diesem Titel.

Der 13jährige Sascha lebt in einem gefängnisartigen Heim für schwer erziehbare Kinder. Er ist wie ein Tiger im viel zu kleinen Käfig. Auch er trägt das Tattoo S.E.R. Immer wieder gelingt ihm die Flucht, immer wieder wird er eingefangen und sadistisch bestraft. Er will seinen Vater finden. Nach einer Reise immer entlang dem prekären Rand des verfallenden Landes findet er ihn im Straflager Archangelsk. Der Direktor erlaubt ihnen einige gemeinsame Stunden.

Der Vater, zerstört und lebensmüde von dem Kreislauf aus Rebellion und Strafe, öffnet sich nur langsam. Das Kind spürt seinen Schmerz und seine Sehnsucht. „Wenn du entlassen wirst, nehme ich dich zu mir.“ sagt es. Und zum Direktor: „Sie müssen ihn zum Arzt bringen, er hat die ganze Nacht gehustet!“

Dann wird Sascha ins Erziehungsheim zurückgeschafft, wo ihn Dunkelhaft und die Rache der Gruppe erwarten. Der Junge, der die Freiheit suchte, fand eine Aufgabe und nahm sie an: Hoffnung stiften für den Vater.

So ein Tattoo bleibt lebenslang. Freiheit ist ein Paradies. Wer Unfreiheit erlebt und daran gelitten hat, trägt irgendwo in der Seele das Tattoo S.E.R. Swoboda eto Rai.

Das biblische Paradies ist ein schöner Garten, von Gott selbst angelegt und Gott setzte den Menschen hinein, „dass er ihn bebaute und bewahrte.“ (Gen. 2,15) Also kein Schlaraffenland des unverdienten, unendlichen Genusses.

Vielmehr ein Verantwortungsbereich. Bebauen und Bewahren.

Auch das Freiheitsparadies muss bebaut und bewahrt werden. Man kann darin Wein für die Freude ziehen und Hoffnungsbäume pflanzen, Bänke zum Verweilen aufstellen und Plätze schaffen zum Zusammenkommen.

Aber das alles macht Mühe und Arbeit, die man am besten mit anderen zusammen schafft. 

Und alle irdischen Paradiese sind immer gefährdet von Machtgier und Egoismus, von Mord und Ausgrenzung, durch die Ausbeutung von Natur und Menschen.

Was sind wir bereit, zum Bewahren des Freiheitsparadieses zu tun? Dienen wir freiwillig? Lassen wir uns in die Pflicht nehmen? Braucht die Bewahrung der Freiheit heute Zwangsmaßnahmen?

An Tagen wie heute fühlt man wieder den Schmerz beim Stechen des Tattoos.

Dann schauen wir es wieder einmal an. Wir erinnern uns, warum wir es tragen.

Daraus wächst Kraft, um weiter zu arbeiten im Freiheitsparadies.

Hildigund Neubert, 09.11.2025

Elisabeth Kaiser, Ostbeauftragte der Bundesregierung, Kai Wegner, Regierender Bürgermeister, Chemi Lhamo, tibetisch-kanadische Menschenrechtsaktivistin, Hildigund Neubert, Vorsitzende des Bürgerbüro e.V. zur Aufarbeitung von Folgeschäden der SED-Diktatur, Prof. Axel Klausmeier, Direktor der Stiftung Berliner Mauer. (c) P. Bertram

Zurück